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Leben

Corona contra geben! Tipp #17: Digitales Erschöpfungssyndrom oder: „Zoom-Fatigue“

Folgendes Phänomen dürfte aktuell vielen Menschen vertraut sein: man sitzt den ganzen Tag nur am PC und fühlt sich abends todmüde! Bewegt haben Sie sich zwar nicht, ausgelaugt und erschöpft sind Sie trotzdem. Wie kann das sein?

Seit Beginn der Pandemie hat sich unsere Bildschirmzeit um ein Vielfaches erhöht. Zum Teil liefert uns der Bildschirm die einzige Möglichkeit, Kontakt zu Kollegen und Freunden aufzunehmen. Doch das ständige In-die-Röhre-schauen macht vor allem eins: müde! Für unser Gehirn ist diese Form der Interaktion extrem anstrengend. Folgen können in Form von Schlafstörungen, Magenschmerzen oder Antriebslosigkeit auftreten. Aber warum? Es fällt uns sehr schwer, die Konzentration im Zuge von Online-Meetings über einen längeren Zeitraum aufrecht zu erhalten. Die Folge: ein sogenanntes Konzentrations-Fatigue, also quasi eine Konzentrationserschöpfung.

Aber wie können wir Abhilfe schaffen, ohne gleich den Stecker zu ziehen?

1) Der Porträt-Modus

Warum ist die neue Form der Kommunikation so anstrengend? Ein Grund stellt sicherlich die Tatsache dar, dass viel Menschliches verloren geht: Mimik und Gestik werden nur eingeschränkt wahrgenommen. Dabei ist die nonverbale Kommunikation wichtig und die Ur-Form unserer Kommunikation, stellt das gesprochene Wort doch eine Entwicklung der Zivilisation dar. Die Online-Kommunikation beeinträchtigt also tief verwurzelte Fähigkeiten und macht es erforderlich, sich dauerhaft ausschließlich auf das gesprochene Wort zu konzentrieren. Noch schlimmer wird es, wenn sich mehrere Personen in einem Videoanruf befinden. Der Feind heißt „Galerieansicht“. Unser Gehirn steht vor der Herausforderung viele Menschen gleichzeitig zu entschlüsseln. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit anhaltend verteilen, und es entsteht häufig das Gefühl, ausgelaugt zu sein, ohne etwas Nennenswertes erreicht zu haben. Das Gehirn sieht sich ungewohnt vielen Reizen gleichzeitig gegenüber, sucht in diesen nach nonverbalen Hinweisen wie nach der Nadel im Heuhaufen – ein unmögliches Unterfangen! Kein Wunder also, dass sich Frustration und Erschöpfung einstellen.

Abhilfe schaffen viele Pausen. Gönnen Sie Ihren Augen Entspannung und Weitblick. Stehen Sie auf, schauen Sie aus dem Fenster oder gehen kurz raus. Blicken Sie in die Ferne! Und versuchen Sie, in Ihrer Freizeit noch bewusster auf Screen-Zeit zu verzichten. In diesem Zuge bietet sich vielleicht sogar ein Medien-Detox für die Freizeit an! Also für einen vorher festgelegten Zeitraum keine sozialen Medien, Online-Spiele und Co. Zusätzlich können Sie im beruflichen Umfeld einen Mix aus verschiedenen Medien anstreben: falls möglich, telefonieren Sie zwischendurch doch auch einfach mal. Das entlastet, da sich unser Gehirn nur auf eins konzentrieren muss, nämlich die Stimme des Gegenübers. Positiver Nebeneffekt: wir sind nicht an den Bürostuhl gefesselt, sondern können uns frei bewegen.

2) Wir sind ständig im Fokus

Ein Problem besteht also darin, viele Reize gleichzeitig wahrnehmen, einordnen und verarbeiten zu müssen. Ein ganz anderer, ebenso zentraler Aspekt liegt jedoch im Beobachtet-werden. Somit sitzen wir stoisch auf unseren Stühlen, um bloß keine falsche, gar peinliche, Bewegung von uns zu geben. Schließlich könnte uns gerade eines der 15 Gesichter gezielt beobachten, ohne dass wir es merken. Oh weh, wenn wir gerade in diesem Moment die Contenance verlieren. Ganz schön anstrengend! Die Folge? Eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit, ein Phänomen, das aus dem Störungsmodell der sozialen Phobie bekannt ist und Stress erzeugt. Wir checken unser eigenes Bild und versuchen in ständiger Selbstkontrolle sicher zu stellen, dass wir uns aus dem besten Winkel zeigen. Bloß nicht schlaff im Sessel hängen und erst recht kein Doppelkinn präsentieren! Klar, dass wir dabei nichts mehr von den eigentlich wichtigen Aspekten des Meetings mitbekommen.

Die Lösung? Prüfen, ob der eigene Bildausschnitt stimmt und dann: das eigene Bild ausschalten!

3) Kontext bitte

Unsere sozialen Rollen hängen stark vom Kontext ab. Zuhause sind wir privat, vielleicht Elternteil und Hausmann/-frau. Im Büro haben wir vielleicht Mitarbeiterverantwortung. Beim Sport sind wir hingegen Anfänger und froh, im Kurs in der letzten Reihe stehen zu können. Stellen Sie sich nun vor, Sie treffen die Menschen aus all diesen unterschiedlichen Bereichen in nur einem Raum – seltsam! Aber genau das tun wir gerade: alles läuft auf einem Bildschirm ab. Hier machen wir Sport, arbeiten und treffen Freunde. Das macht anfällig für belastende Gefühle. Zudem fehlen die durch Orte vorgegebenen natürlichen Grenzen. Am Abend haben Sie das Büro verlassen, das geht jetzt nicht mehr. Die Arbeit von zu Hause aus könnte theoretisch noch über Stunden fortgeführt werden. Daher sollten Sie über andere Kanäle Grenzen schaffen: wechseln Sie nach der Arbeit unbedingt die Kleidung. Im Umkehrschluss bedeutet das: verzichten Sie auf die Jogginghose im Home Office! Das mag erst einmal absurd klingen, aber wenn Sie sich abends in Ihre Freizeitkleidung werfen können, dann lernt unser Gehirn: Jetzt ist Freizeit, und ich kann abschalten. Kleidung kann uns also helfen, die verlorengegangenen Grenzen wiederherzustellen.

4) Zu intim

Forschern zufolge ähnelt eine Videokonferenz einem Gespräch mit jemandem, der nur einen Meter entfernt ist. Diese Distanz wird als „intime Distanz“ bezeichnet, in welcher typischerweise Trost, Schutz oder Intimitäten gespendet und ausgetauscht werden. Diesen Raum teilen wir ausschließlich mit unseren Lieben und engsten Vertrauten. Wenn wir uns bei Videokonferenzen so nahekommen, fühlen wir uns immer „angeschaltet“. Wir wissen nicht, wann wir beobachtet werden und befinden uns daher in einer andauernden Habacht-Stellung. Daher empfinden wir Online-Kontakte tendenziell als unangenehm. Hinzu kommt, dass wir durch die überwiegende Home-Office Situation die Kollegen und den Chef gleich ins eigene Heim schauen lassen. Achten Sie daher auf Privatsphäre und lassen in Ihrem Bildausschnitt nicht noch zusätzlich zu intime Einblicke zu. Ja, dazu zählt auch den überquellenden Wäschekorb aus dem Weg zu stellen.

5) Multitasking

Erwischt! Gerade schauen Sie während des Online-Meetings auf Ihr Handy oder checken die Mails. Was wir im direkten persönlichen Kontakt kaum tun würden, ist während eines Online-Kontakts einfach zu verlockend! Klar: sich auf so viele Menschen zu konzentrieren ist anstrengend und verleitet dazu, sich ablenken zu lassen. Da wäre es doch praktisch nebenher einfach ein paar To-Dos abzuarbeiten. Kriegt ja niemand mit! Sie versuchen auf diese Weise ihre Produktivität zu erhöhen, doch das Multitasking ermüdet, und die Qualität ihrer Arbeit leidet.

Ganz klarer Tipp: lassen Sie es! Das Multitasking nebenher verstärkt das Online-Fatigue. Richten Sie daher Ihre Aufmerksamkeit zu 100% auf das Meeting, bis dieses beendet ist. Können Sie so gar nichts beitragen, lassen Sie es lieber und verlassen das Meeting.

6) Technische Störungen

Die Kommunikation über technische Hilfsmittel führt schon bei reibungsloser Technik zu einem verringerten Vertrauen dem anderen gegenüber sowie erschwertem Verständnis, so Forscher. Schuld daran ist unter anderem der fehlende Blickkontakt, der über die Video-Tools nicht hergestellt werden kann, ohne den anderen aus dem Blick zu verlieren. Beziehen wir die, leider an der Tagesordnung stehenden, technischen Störungen mit ein, klappt so gar nichts mehr. Sie kennen das: plötzlich ist das Bild eingefroren oder der Kollege sieht aus, als wäre er schlecht synchronisiert worden. Technische Störungen nerven! Und ziehen die Meetings häufig unnötig in die Länge. Studien zeigen, dass bereits eine Sekunde Verzögerung Mehranstrengung für das menschliche Gehirn bedeutet. Daher: achten Sie auf möglichst gute technische Voraussetzungen. Wenn nötig, loggen Sie sich lieber ein paar Minuten früher ein und checken Sie alles einmal durch!

7) Erschwerte Bedingungen

Wie? Sie leben nicht vollkommen steril und frei von jeglicher Dekoration? Das überlegen Sie sich nach einem Jahr Videokonferenzen vielleicht anders! Nicht nur, dass wir pro Meeting mindestens mehrere Kacheln mit winzigen kleinen menschlichen Gesichtern sehen, diese sind zu allem Überfluss häufig auch noch vor einem vollgestellten Hintergrund inszeniert. Überfüllte Bücherregale, Pflanzen, Bilder: was unseren Voyeurismus vielleicht kurze Zeit befriedigt, strengt unser Gehirn schon ab Sekunde 1 an. Die Konzentration auf das gesprochene Wort wird noch weiter erschwert. Und bisher sprachen wir ausschließlich von den unbewegten Objekten. Hinzu kommen noch Partner, Kinder und Haustiere. Es entsteht ein Wimmelbild, wie wir es noch aus Kindertagen kennen, nur von der unguten Sorte. Also versuchen Sie, Ihr Homeoffice so reizarm wie möglich zu gestalten. Das unterstützt die Fokussierung auf Wesentliches, übrigens nicht nur bei Videokonferenzen. Vielleicht können Sie Ihre Kollegen ja ganz höflich bitten, es Ihnen gleich zu tun! Vielleicht können Sie die nutzlosen Online-Bestellungen aus Lockdown Nummer 2 nun wieder ausmisten?

8) Grenzen

Setzen Sie Grenzen bzw. regen Sie diese an: 1. Zeit der Meetings auf maximal 45 Minuten limitieren und 2. ebenfalls die Anzahl der Teilnehmer begrenzen. Maximal 8 Teilnehmer lautet die Empfehlung. Somit steht auch jedem Teilnehmer Zeit für die eigenen Belange zur Verfügung, und: bei dieser kleinen Anzahl kann man sich nicht verstecken und ist automatisch konzentrierter, da man jederzeit gefragt und somit in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken könnte.

Hier geht es zu den bisher erschienenen Tipps der Reihe "Corona contra geben":